Das Projekt «écolsiv» ist etwas sehr Tapferes, Inklusion bereichernd für die Gesellschaft, war das Fazit der Samstagsdebatte.

Studieren trotz kognitiver Beeinträchtigung?

Zürich, 30.05.2019

Soll man trotz kognitiver Beeinträchtigung studieren können? Ja, soll man, denn das ist nichts als gerecht und verleiht Würde, war der Konsens an der Samstagsdebatte im Grossmünster. Integrationsfachleute und ein écolsiv-Student, der sich am Institut zum «Assistenten mit pädagogischem Profil» ausbilden lässt, diskutierten auch über den Nutzen der Inklusion für die Gesellschaft und zeigten, dass sie für die Beteiligten ein Kraftakt sein kann. Als Fachmann sass unter anderem Kai Felkendorff, Dozent an der Pädagogischen Hochschule Zürich, mit auf dem Podium. Er stellte sich anschliessend für ein Interview zur Verfügung.

Herr Felkendorff, Sie sind mit einer Aussage in Anlehnung an das Zitat von Zwingli, das in der Sakristei des Grossmünsters verewigt ist – «man soll einmal im Leben etwas Tapferes tun» – in die Diskussion eingestiegen: Das Projekt «écolsiv» sei etwas sehr Tapferes. unterstrass.edu habe damit Inklusion, also konkret ein Studium für kognitiv Beeinträchtigte an einer Hochschule, ermöglicht. Ein Studierender, der dieses Studium durchläuft, hat am Schluss des Studiengangs ein Portfolio in der Hand, das ausweist, was er alles kann. Sie sind im Verlauf der Diskussion zu neuen Erkenntnissen gekommen, wie Sie sagten.

Kai Felkendorff: Diese Portfolio-Idee ermöglicht kognitiv Beeinträchtigten den Zugang zu Hochschulen, weil sie die erworbenen Kompetenzen präzise beschreibbar macht. Wer regulär nicht in diesen Bildungsraum Hochschule eintreten könnte, kann dank dem Portfolio Bildungserfahrung machen und ihn mit testierten Fähigkeiten verlassen. Ob man diese Testierung gut findet oder nicht, ist völlig gleichgültig. Mir ist im Gespräch klar geworden, dass dies in einem gewissen Sinne die Diskussion entschärft. Noch dazu, weil es sich um Zusatzplätze handelt, die mit écolsiv geschaffen worden sind. Die Studierenden von écolsiv nehmen den regulären Studierenden also keinen Studienplatz weg. Die ganze gerechtigkeitstheoretische Debatte fällt somit weg. Man kann aber lange darüber diskutieren, ob die Plätze zusätzlich vergeben werden sollen oder nicht.

In der Diskussion haben Sie gesagt, dass man sich besser davor hütet, bei den Studierenden zu fragen, ob man kognitiv Beeinträchtigte integrieren soll. Das sei vergleichbar mit damals, als man Weisse oder Männer gefragt habe, ob Schwarze oder Frauen gleichberechtigt behandelt werden sollen. Sie haben damit den Fokus von der Frage weggeleitet, was der Gewinn der Inklusion für Mitstudierende und die Gesellschaft ist. Was ist dann überhaupt noch tapfer an diesem Projekt?

Dass unterstrass.edu die Tür aufgemacht hat für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, finde ich tapfer. In Zeiten, in denen die Präsenz solcher Menschen nur schon im Bereich der Primarschule in Frage gestellt wird, ist es mutig. Es gibt Leute, die heute ganz offen fragen: Was hat der kognitiv Beeinträchtigte aus unserem Dorf mit unseren Kindern an der Schule verloren? Die Debatte ist noch nicht beendet. Es ist sehr mutig, Inklusion erst recht im Hochschulbereich zu machen. Es ist mutig und tapfer, weil mit Widerstand zu rechnen ist. Ich war auf der écolsiv-Tagung im letzten September, an welcher ein Studiengangsleiter aus Salzburg von einem ähnlichen Projekt erzählt hat. Es gab in Salzburg massive Einwände, ein paar Plätze für kognitiv Beeinträchtigte zu öffnen.

Was würden Sie bei Einwänden entgegnen? Sich auf die Menschenwürde berufen, die in der Diskussion auch als Begriff gefallen ist?

Ja, das ist mein persönlicher Standpunkt. Man braucht keine komplizierten Gerechtigkeitstheorien. Es geht um Menschenwürde! Es geht um die Öffnung eines bisher völlig verschlossenen Bildungsraums, der lange hoch segregativ war. Wie gesagt, es wird niemandem der Platz weggenommen. Es wird niemandem ein Schaden zugefügt. Es gäbe wahrscheinlich interessantere Testfälle, wo Mitstudierende oder Eltern sagen würden: Nein, das geht jetzt aber wirklich zu weit. Das ist immer der Fall, wenn externalisierend aggressives Verhalten vorliegt. Auch aggressives Verhalten ist für mich kein Argument, das Zugangsrecht zu verwehren.

Wenn man eine/n Studierende/n mit kognitiven Beeinträchtigungen unterrichtet, muss man sich anders vorbereiten, bloss wie? Auch das wurde ein wenig diskutiert.

Ich bin eigentlich inkompetent in dieser Frage, weil ich als Dozent an der PHZH kaum mit dieser Heterogenität konfrontiert bin. Ich konnte diese Kompetenz nicht kultivieren. Ich nehme aber an, dass es um die Kompetenz geht, am gleichen Lerngegenstand unterschiedliche Lernprozesse zu ermöglichen und gleichzeitig Sozialität herzustellen. Es sollte also nicht so sein, dass jede und jeder auf dem tablet einen Text liest und Fragen beantwortet, sondern dass interagiert wird. Einen solchen Unterricht müsste ich erst kultivieren. Es wäre bei bestimmten Lerngegenständen einfach, bei anderen schwierig: Ich müsste einiges an Denkleistung aufbringen.

Wie geht es weiter im Bereich Inklusion an Hochschule? Was ist Ihre Einschätzung?

Ich kann mir vorstellen, dass Hochschulen inklusiver werden. Zunächst wohl mit eher zielindifferenten Lernangeboten, wo weder die gleichen Eintrittsvoraussetzungen verlangt werden wie von den klassischen Studierenden noch angestrebt wird, dass sie das vollständige Zertifikat erwerben. Dies ist nicht unbedingt bezogen auf Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Es gibt bereits die Kinder- oder die Seniorenuniversität. Dass Hochschulen Zwischenzertifikate anbieten, das war schon mit der Schaffung der Module mitgedacht. Wenn man an die Bologna-Reform denkt, sollten Module eigentlich abgeschlossene Lerneinheiten sein. Hochschulen bieten heute schon viele Workshops an. Weil man von der Währung «es zählt nur das Abschlusszeugnis» wegkommt, könnte alles viel feiner werden und neue Zugänge ermöglich werden.

Sie verfolgen das Projekt écolsiv schon seit längerem und haben die heutige Diskussion miterlebt. Gibt es etwas, was Sie unterstrass.edu diesbezüglich empfehlen oder wünschen?

Ich habe keinen Tipp, eher den Wunsch: Seid stolz darauf und bleibt dabei.

Herzlichen Dank, Herr Felkendorff, für das interessante Gespräch.