Die Trainerinnen und Trainer des ChagALL-Programms sind mehr als nur Lehrpersonen.

Gymnasium: Sollen alle diese Chance haben?

Zürich, 17.06.2019

Junge Migrantinnen und Migranten sollen die Chance bekommen, mit einem speziellen Förderprogramm die Aufnahme an ein Gymnasium oder eine Berufsmittelschule zu schaffen. In der letzten Debatte im Grossmünster gab es für ChagALL fast nur lobende Worte. Es wurde einzig kritisiert, dass das Programm nicht allen offen steht. Stefan Gligorov, ein Absolvent aus dem zweiten ChagALL-Jahrgang und Podiumsteilnehmer, erklärt im Interview, was ihm die Förderung bedeutet hat.

Stefan, ein Politiker im Podium sagte, dass er auf dem Paradeplatz ausgepeitscht würde, wenn er analog zu ChagALL ein Förderprogramm für ausschliesslich Jugendliche mit Schweizer Pass ins Leben rufen würde. ChagALL sei zu exklusiv. Für die Aufnahme ist ja ein Migrationshintergrund zwingend. Wie hast du das in deiner ChagALL-Zeit erlebt? Hast du negative Reaktionen erlebt, weil du zu einem «erlauchten» kleinen Kreis gehörtest, der speziell gefördert wurde?

Stefan Gligorov: Ich wurde deswegen nie schräg angeschaut. Ein grosser Teil meiner SEK-Klasse wusste gar nicht, was ChagALL bedeutet. Ich persönlich habe ChagALL nicht als Privileg, sondern als Chance verstanden. Ich konnte mit dem Programm meine Lücken schliessen. Man muss klar sehen: Während andere am Mittwoch-Nachmittag oder Samstag-Morgen frei hatten, bin ich in die ChagALL-Trainings gegangen. Letztlich ist das Programm auch mit Verpflichtungen verbunden. Ich musste zu 80-Prozent in den Trainings anwesend sein. Ich habe es wirklich einfach als Chance betrachtet, in gewissen Bereichen besser zu werden.

Was war für dich persönlich der Schlüssel des Erfolgs im ChagALL-Programm? Es wurde in der Debatte Verschiedenes genannt, was ChagALL ausmacht: die Würdigung des Talents, Motivationstraining, die Fachcoachings etc.

Für mich waren zum einen die Trainerinnen und Trainer wichtig: Sie haben uns neue Wege gezeigt, wie man Herausforderungen meistert. Zum anderen war für mich persönlich die Gemeinschaft wichtig. Man hat zehn bis zwölf ChagALL-Schülerinnen und Schüler in der Gruppe, mit denen man sich vorbereitet. Wir waren wie eine kleine Familie. Ich habe aber nicht wie andere das Gymnasium angestrebt, ich habe mich nicht dort gesehen. Von klein auf wollte ich immer Informatiker werden. Für eine Informatikerlehre brauchte ich kein Gymnasium, sondern nur die SEK A.

Hast du erreicht, was du dir schulisch und beruflich als Ziel gesetzt hast?

Ja, ich war zuerst in der SEK B, dann hat die Programmleiterin von ChagALL meinem Lehrer geraten, dass ich in die SEK A hochgestuft werde. Dank der ChagALL-Förderung habe ich die BMS-Aufnahmeprüfung gemacht und bestanden. So betrachtet ging alles relativ reibungslos.

Du hast in der Diskussion immer wieder betont, dass auch die Eltern im Programm einbezogen und sehr gut informiert werden müssen. Hat sich die Sicht deiner Eltern auf Bildung durch ChagALL verändert?

Meine Eltern waren sehr stolz, als ich das ChagALL-Zertifikat in den Händen hatte. Sie sagen auch heute noch, dass ein Teil meines Verhaltens und wer ich bin von ChagALL geprägt worden ist. Ich habe meine Lebensstrategie verändert. Ich teile diese Sicht mit den Eltern.

Welche Erwartung hatten deine Eltern mit mazedonischen und bosnischen Wurzeln, was du in der Schweiz erreichen solltest?

Meine Eltern haben im Verlauf meiner Ausbildung realisiert, dass man in der Schweiz mit einer Berufslehre viel erreichen kann. Sie haben einige Bekannte, die das Gymnasium als einzige Möglichkeit für Erfolg sehen. Ich habe so beispielsweise der Tochter eines Bekannten meines Vaters gesagt, dass es nicht unbedingt nötig ist, ans Gymnasium zu gehen. Sie soll machen, was ihr gefällt. Wenn es eine Lehre im Gesundheitsbereich ist, die sie reizt, soll sie diesen Weg gehen. Man soll Jobs nicht gut oder schlecht reden...

...das Wichtigste ist das Herzblut für einen Job, hast du in der Diskussion gesagt.

Genau, wenn man mit Herzblut dabei ist, spielt es nicht so eine Rolle, wie hoch die Anforderungen sind. Man ist motiviert. Für meinen kleinen Bruder war es sicher einfacher, den Weg zu gehen, der ihm entspricht. Meine Eltern haben realisiert, dass man in der Schweiz nicht Arzt oder Data-Analyst werden muss. Es ist auch wichtig, dem familiären Umfeld beizubringen, dass es nicht nur Informatik-, KV- oder Lehrerjobs gibt. Ich hatte mal eine Diskussion mit meinen Eltern, die gefragt haben: Warum sollte mein Kind in die SEK A gehen, um dann Schreiner zu werden. Ich war in der BMS in einer Klasse mit fünf Schreinern. Wenn sie das gerne machen und es diesen Beruf braucht, warum sollten sie nicht diesen Weg wählen?

Du hast in der Debatte kritisiert, dass die Berufsberatung in der SEK ungenügend war.

Mein Berufsberater hat einzig auf die Einstufung in der SEK geschaut und dann gesagt, welche Lehre ich schaffen kann. Ich habe zu hören bekommen, dass man mit SEK B nicht Informatiker werden kann. Das stimmt so nicht, man kann Supporter werden und sich dann Kompetenzen aneignen, die andere Informatiker auch haben.

Es gibt sicher in der SEK A und B viele Talente, deren Einstufung nicht dem Potential entspricht. Das ist genau der Grund, warum es ChagALL gibt. Darüber wurde ja auch in der Debatte diskutiert. Einige Schülerinnen und Schüler sind nicht am für sie richtigen Ort.

Genau, ChagALL schafft Ausgleich. Aber auch das Schweizer System ermöglicht es, auf unterschiedlichen Wegen zum Ziel zu kommen. Man kann sogar ohne BMS mit einer Lehre über Weiterbildungen den Bachelor oder sogar den Master machen.

Noch einen Schlusssatz zu ChagALL, was bedeutet es für dich, «Chagallist» zu sein?

Wir Chagallisten sind zu einer Familie zusammengewachsen. Ich habe auch heute noch Kontakt zu den Leuten im Programm. Ich bin dankbar für die Chance. Mein Dank gilt gleichermassen meinen Kolleginnen und Kollegen wie meinen Trainerinnen und Trainern.

Herzlichen Dank, Stefan, für das spannende Gespräch.