Lernvikariat des Diplomstudiengangs

Zürich, 15.01.2019

Endlich unterrichten, ohne dass einem jemand über die Schultern schaut

Selma Wydler steht seit einer Woche zum ersten Mal in ihrer Ausbildung am Institut Unterstrass ganz allein vor einer Schulklasse. Dieses Bild trifft es allerdings nicht ganz. Denn die Studentin macht wenig Frontalunterricht. In Instruktionsphasen sitzt sie mit ihren Schülerinnen und Schülern einer 5. Primarklasse im Kreis. Ihr Kopf ist voll mit Unterrichtsideen und Unterrichtsformen aus dem Studium, die so ganz anders sind als die, welche die Mehrheit der Erwachsenen selbst in der Primarschule erlebt haben.

«Ich freue mich sehr darüber, mal ganz allein zu unterrichten, ohne dass mir jemand über die Schultern schaut. Ich habe im Vikariat Zeit, mein ganzes Repertoire anzuwenden.»

Während vier Wochen unterrichtet sie «ihre Klasse» als Lernvikarin in einem 22-Lektionen-Pensum in allen Fächern ausser Sport und Französisch. Wydler stellt gleich klar, dass auch der Begriff «Fächer» bei ihr zu eng gefasst ist, denn was sie macht, kann selten in ein «Fach» gestülpt werden – manchmal auch nicht in ein Klassenzimmer. Der aktuellste «Lernort» der Klasse ist eine Baustelle, wo die Schülerinnen und Schüler den Bauarbeitern beispielsweise beim Betonmischen zuschauen. Zurück im Klassenzimmer dürfen zwei Kinder Schutzanzüge anziehen und verschiedene Zutaten nach gleichem Rezept wie auf der Baustelle in einem Kessel zu Beton rühren. Selma Wydler erklärt: «Ich arbeite mit der Klasse handlungsorientiert, deshalb wird nicht nur über nachhaltige Entwicklung diskutiert, sondern diese auch gestaltet». Im Fach «Natur Mensch Gesellschaft» (NMG) werden verschiedene Baumaterialien auf ihre ökologischen Vor- und Nachteile untersucht.

Die Kinder dürfen selbstständig dazu recherchieren, im Schülerkreis gibt es danach Fragerunden und auch kurze Instruktionen der Lehrerin. In der gestalterischen Umsetzung passiert der Transfer: Die Schülerinnen und Schüler konstruieren zusammen ihre Modellstadt. Alle dürfen sich einen Baustoff nach Wahl für ihr Haus aussuchen, zu dem sie ausgiebig punkto Nachhaltigkeit recherchiert haben. «Ein Schüler ist zu mir gekommen, weil er unschlüssig war, welches Baumaterial er wählen sollte. Er hat realisiert, dass jedes Material gewisse Vor- und Nachteile hat. Das hat mich sehr gefreut, denn genau darum geht es mir mit dieser Unterrichtseinheit» erklärt die Vikarin: «Die Kinder sollen diese Konflikte erkennen und versuchen, kreative Lösungen dafür zu finden». Beton sei zwar stabil, aber es brauche Sand respektive Gestein dafür. Wenn viel Stein abgebaut werde, gehe Lebensraum von Tieren verloren. Sand entsteht zudem in einem jahrtausendlangen Prozess und wird zurzeit in viel schnellerer Geschwindigkeit abgebaut, als er entstehen kann. Das seien Schluss­folgerungen, die Kinder in diesem Alter gut selber ziehen können.

Als Bachelor-Arbeit hat Selma Wydler ein Lehrmittel verfasst, das genau dies zum Ziel hat: Durch praktische Arbeit mit Rohstoffen und dem Bau einer Modellstadt Gedankenprozesse anzuregen.

Damit die vier Wochen Vikariatszeit so gut verlaufen, wie sie es derzeit bei der Studentin tun, ist viel Vorbereitungsarbeit nötig: Sie habe stark von ihrer Bachelor-Arbeit profitiert. Selma Wydler hat die Klasse aber auch vor Weihnachten ein paar Mal im Unterricht mit ihrer Lehrerin besucht. Sie hat sich überlegt, welche Unterrichtsmethoden am besten zur Klasse passen und in den Weihnachtsferien intensiv verschiedene Arbeitsaufträge ausgearbeitet. Nur schon das Zusammentragen der Materialien wie Sand – den es nur in ungeheuren Mengen zu kaufen gebe – und sonstigen Betonzutaten, sei aufwändig.

Durch die gute Vorbereitung und Planung habe sie im Vikariat aber auch Freiräume und sei überrascht, wie gut alles laufe. Sie habe nicht das Gefühl, nichts mehr anderes tun zu können als zu arbeiten. Sie ist sehr froh, dass die Klasse sie voll akzeptiert und sehr motiviert ist, mit ihr zu arbeiten. Das mache auch die Aussicht auf die anstehende praktische Prüfung einfacher: In der «Diplomprüfung Berufspraxis» am Ende des Vikariats muss die Studentin einer Dozentin und der Klassenlehrerin in drei 30-minütigen Unterrichtssequenzen ihr ganzes pädagogisches Geschick und Fachwissen zeigen. Zur Prüfung gehören auch Reflexionen der Unterrichtseinheiten und genaueste Analysen der Unterrichtsmethoden. Selma Wydler ist «total froh», dass sie diese happige Prüfung mit «ihrer Klasse» absolvieren kann, mit der das Unterrichten fast wie von selbst läuft.

Sie freut sich schon sehr auf den kommenden Sommer, in dem sie mit dem Studienabschluss in der Tasche an einer Primarschule eine Stelle suchen und ihr ganzes Unterrichtsrepertoire ohne Prüfungsstress anwenden kann. Wie fast alle Untersträsslerinnen sei sie keine Novizin: «Ich habe schon nach der Matur Erfahrungen in einer Sonderschule gesammelt », sagt Wydler. Sie hat erstmal zwei Jahre lang verschiedene Jobs gemacht: «Das wird vom Institut Unterstrass schlicht erwartet – man soll zuerst mal Erfahrungen sammeln, bevor man mit der Ausbildung beginnt.»

Die Studentin ist überzeugt, dass sie einen Beruf gefunden hat, der zu ihr passt und sie erfüllt. Wenn sie an ihre Zukunft denkt, ist es ihr enorm wichtig, eine Schule zu wählen, in der sie sich ihren Vorstellungen entsprechend entfalten kann und in der sie sich wohlfühlt. Sie hat entsprechend ihre Vikariatsschule gut ausgewählt und ist von ihr begeistert.

Allen Schülerinnen und Schülern in ihrer Vielfalt und ihren persönlichen Ansprüchen entsprechend gerecht zu werden, davor hat sie am meisten Respekt. In der aktuellen Vikariatsklasse sind es 19 Kinder. Die Unterrichtsmethoden haben sich über die Jahre enorm gewandelt, nicht aber die Klassengrössen.