Die Seminaristen der frühen Promotionen hatten einen harten Arbeitsalltag, bekamen aber auch eine breite Bildung.

Der erste Lehrplan und die arbeitsreiche Umsetzung

Zürich, 02.05.2019

Turnen, obligatorischer Geigen- und Klavierunterricht, Psychologielektionen und zweiwöchige Praktika an Schulen: Die Lehrerbildung am Seminar Unterstrass war bereits vor 150 Jahren praxisnah, vielfältig und bis heute identitätsstiftend. Was für einige der christlich-konservativen Gründerväter zu fest nach Muse und Spass klang, war für die Seminaristen alles andere als ein Spaziergang.

Weil das Seminar sich den evangelischen Werten als nichtstaatliche Schule verpflichtete, geriet es immer wieder ins Kreuzfeuer der Kritik der in Zürich herrschenden Demokraten. Diese hatten auch den Erziehungsrat unter sich (siehe auch Highlight 43). Viele von ihnen tendierten zum Atheismus oder zumindest einer säkularen Grundhaltung. So musste sich der erste Direktor der Schule, Heinrich Bachofner, ständig rechtfertigen: Er erklärte in den Jahresberichten genau, wie er den Lehrplan im Seminaralltag mit Inhalten füllte.

Der Direktor bemühte sich um eine sehr umfassende und breite Ausbildung, zu der Klavier- und Geigenunterricht genauso wie Turnen selbstverständlich dazugehörten. Das roch für einige der christlich-konservativen Gründerväter des Seminars zu stark nach Muse oder gar Spass.

Tagwacht um 5 Uhr, Arbeitsstunden bis 21 Uhr

Bachofner hielt dem in einem Jahresbericht von 1869/1970 entgegen: Das Leben und Lernen am Seminar Unterstrass war alles andere als ein Spaziergang.

«Tagwacht im Sommer ist um 5 Uhr morgens, wobei die ersten Freiwilligen bereits um 4 Uhr aufstehen.» Es folgen Hausarbeiten in den Schlafsälen, die mit bis zu 20 Schülern besetzt sind, sowie eine Morgentoilette. Der Schulalltag beginnt um 6 Uhr mit dem Fach Religion, genauer gesagt mit dem Gesang von Kirchenliedern, der Bibellektüre und einem Morgengebet. Dann stehen das Frühstück und die Reinigung der ausladenden Räumlichkeiten im «Weissen Kreuz» auf dem Programm. «Der Unterricht findet von 8 Uhr bis 12 Uhr und von 14 bis 17 Uhr statt. Nach dem regulären Unterricht folgen von 17 Uhr bis 21 Uhr Arbeitsstunden. Dann folgt die Abendandacht mit einem Abendlied.» Da verwundert es nicht, dass die Seminaristen nach diesem Programm todmüde ins Bett fallen: «So hörte man 10 Minuten später nur noch das leise Athmen der Schlafenden».

In staatlichen Seminarien war der Alltag ähnlich, jedoch wurde auf ein Morgen- und Abendgebet verzichtet. Am Seminar Unterstrass waren sie Pflicht, aber Bachofner stellte in einem Jahresbericht aus dem Jahr 1874 klar, dass er seine Schüler nicht an ihrer Religiosität mass: «Ob alle unsere Schüler beten, sind wir gefragt worden. Nein. Es sind sogar welche da, und sie gehören zum Theil zu den liebsten, auf deren Angesicht in den Morgen- und Abendandachten der Geist des inneren Widerspruchs sich spiegelt.»

Religionsunterricht stand im Lehrplan am Seminar Unterstrass aber ganz klar an erster Stelle, «in ihm liegt die Eigenthümlichkeit und der Schwerpunkt unserer Schule (...) es tritt mit fünf Wochenstunden in den Vordergrund», erklärte Bachofner.

Praxisorientiert, musisch und sportlich

Grössere Unterschiede zu staatlichen Schulen zeigten sich in den Fächern Pädagogik, Psychologie und Methodik. Das Seminar Unterstrass entwickelte schon zur Zeit Bachofners Alleinstellungsmerkmale, die bis heute Bestand haben.

Das Fach Psychologie existierte im staatlichen Lehrplan nicht, stattdessen wurden neun Stunden für die Pädagogik eingesetzt. Im Seminar Unterstrass wurden sechs Lektionen Pädagogik und drei Lektionen Psychologie unterrichtet. Das Gymnasium Unterstrass sollte Jahre später das erste im Kanton Zürich werden, welches das Fach PPP einführte (2008), in dem neben Philosophie auch Psychologie und Pädagogik gelehrt werden.

Mit der Methodik startete das Seminar Unterstrass anders als die staatlichen Schulen bereits im 3. Schuljahr. Die Seminaristen wurden ausserdem in ein zweiwöchiges Praktikum geschickt, in dem sämtlicher Unterricht übernommen wurde. Die staatlichen Seminaristen in Küsnacht absolvierten lediglich Schulbesuche. Die Untersträssler erhielten damit in der Lehrerbildung ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal, das sich bis heute gehalten hat.

Bestehen trotz Kritik von Linken und Christlich-Konservativen

Heinrich Bachofner verstand es, den Zeitgeist einer umfassenden Bildung, zu der wie ausgeführt auch Sport und Musik gehörte, vor seinen Glaubensgenossen zu verteidigen und diese zu besänftigen. So wurden im Musikunterricht religiöse Lieder eingeübt. Im Naturwissenschaftsunterricht, der Konflikte zu religiösen Grundhaltungen erzeugen konnte, setzte er einen feinfühligen ehemaligen Zögling ein, der an der ETH studierte.

Mit diesem Kurs war Bachofner erfolgreich: Unter seiner fast 30 Jahre dauernden Leitung wurden 300 Lehrer ausgebildet und das Seminar hat sich trotz Kritik von linken Kreisen einerseits und religiös-konservativen Kräften anderseits einen festen Platz in der zürcherischen Bildungslandschaft erarbeitet.