Susanne Kramer-Friedrich
Herkunft und Kindheit
Susanne Friedrich wurde am 16. Juli 1935 als zweites Kind ihrer Eltern geboren. Der Vater, Walter Friedrich, war Textilkaufmann, die Mutter, Ida geb. Pfister, ausgebildete Pianistin. Bruder Walti war sechs Jahre älter als sie. Die Familie wohnte im eigenen Einfamilienhaus an der Kilchbergstrasse in Zürich-Wollishofen.
Zwei Erfahrungen spielten für Süsi, wie das Kind genannt wurde, lebenslang eine Rolle.
Die glückliche: Da Vater auch ein sehr guter Klavierspieler war, standen im Musikzimmer ein Flügel und ein Klavier. Auf diesen zwei Instrumenten spielten Vater und Mutter oft vierhändig die grossen KIavierkonzerte von Brahms, Beethoven und Mozart. Das kleine Süsi kroch derweil zwischen den Instrumenten auf dem Teppich umher. Dabei prägten sich ihm die Töne der Musik und die Muster des Teppichs ein. Später geschah es nicht selten, dass Susanne nach einem Konzert zu Werner sagte: Der langsame Satz war wunderbar. Ich habe wieder die Muster unseres Teppichs gesehen.
Die schicksalshaft schwere Erfahrung: Als Süsi sechs Jahre alt war, starb ihr Vater völlig unerwartet an einem Herztod, für Susanne lebenslang ein traumatisches Erlebnis. Viele nahmen Anteil am Leid der Mutter. Dem älteren Bruder sagten sie: Jetzt bist du der Mann der Familie. Nun musst du dich um Mutter kümmern. An Süsi dachte niemand, es war ja noch so klein. Es schlich allein ins Schlafzimmer und bat den Vater, doch aufzuwachen, aber er rührte sich nicht. Es ging hinunter in den Keller, legte sich in eine leere Kartoffelhurde und weinte so lange, bis es einschlief. Die Suche nach dem verlorenen Vater blieb eine lebenslange Suche und verband sich mit der Suche nach dem himmlischen Vater.
Schulzeit und Studium
Süsi besuchte das Gymnasium der Töchterschule Hohe Promenade. Sprachen und Kunst waren ihre Lieblingsfächer. Sie verehrte die Französischlehrerin Elisabeth Brock-Sulzer. Nach der Matur absolvierte sie auf Wunsch der Mutter das Oberseminar, wurde Primarlehrerin und unterrichtete eine vierte Klasse in Zürich-Friesenberg. Nach einem Jahr begann sie - wie schon lange gewünscht - an der Universität Genf das Studium der Französischen und Deutschen Sprache. Zurück in Zürich wurde sie vom Rektor der Töchterschule bestürmt, Vikariate und eine Hilfslehrerstelle zu übernehmen. Es war die Zeit des Lehrermangels, und Susanne war eine begeisterte und viele begeisternde Deutsch- und Französischlehrerin.
Heirat und Seminar Unterstrass
An der Uni lernte sie den Theologiestudenten Werner Krämer kennen. Für ihn war es Liebe auf den ersten Blick. Susanne brauchte etwas länger, dachte dann aber. einer mit dem man so gut über Gott und die Welt diskutieren könne, wäre möglicherweise auch ein guter Mann. 1960, an Susannes 25. Geburtstag wurde das Paar in der Wasserkirche getraut und feierte in der Meisen das rauschende Fest ihrer Liebe. Dann zogen sie sich nicht in die kleinste Hütte zurück, sondern übernahmen mit dem Beginn ihrer Ehe die Leitung des Reformierten Studentenhauses an der Moussonstrasse und lebten damit mitten ¡n einer Grossfamilie von rund zwei Dutzend Studenten. Susanne vergrösserte ihr Unterrichtspensum an der Töchterschule und anderen Gymnasien.
Auf Frühjahr 1962 wurde Werner zum Direktor des Evangelischen Lehrerseminars Zürich-Unterstrass gewählt, dem auch die Leitung des Internats übertragen war. So bezogen die beiden mit ihren noch geringen Habseligkeiten die grosse Direktorwohnung im Schulhaus. Also wieder Leben in einer Grossfamilie mit Speisesaal und Diskussionen. Auch hier gefiel Susanne das Leben im grossen Kreis und die lebendige geistige Atmosphäre, auch wenn sie selber weder angestellt noch besoldet war. Aber sie war für alle da, die sie brauchten: Sie tröstete interne Schüler bei persönlichen Kümmernissen, sie pflegte sie bei Krankheiten. half in der Schule aus, war Gesprächspartnerin der Hausbeamtin und war die respektierte «Chefin».
Mutter- und Familienzeit
Dazu kam von 1963 an die Mutterzeit. Sie freute sich darauf. hatte sie doch erfahren, wie inspirierend das Leben mit einem kleinen Kind ist. als ¡hr Gottenbub Johannes zwei Jahre bei ihr lebte.
Susanne gebar drei Kinder: Mathis. Thomas und Nina. Sie erlebte Schwangerschaften und Geburten als eine Art Offenbarung der Kreatürlichkeit: ein neues Leben, ein neuer Mensch entsteht. Und sie war Teil und hatte Teil an einem Kapitel der Schöpfung. Faszinierend für sie: den Spracherwerb der Kinder miterleben, Muttersprache vermitteln, Geschichten erzählen, Lieder singen, eigene Verse dichten. Malen mit den Kindern. Sie war voller Einfälle. Die Kinder erlebten sie als anspruchsvolle Mutter, aber auch als eine, mit der man viel lachen und Komplotte schmieden konnte. Unvergessen, wie sie bei Krankheiten und Unfällen in ihrem Element war, je mehr Blut floss, umso ruhiger und fachkundiger handelte sie.
Das Jahr 1972 gewann für Susanne und ihre Klasse (Promotion 102a) eine besondere Bedeutung. Für den Weltgebetstag jenes Jahres hatte Silja Walter, die Nonne und Schriftstellerin im Kloster Fahr, die Liturgie verfasst. Die vor Gott spielende Weisheit sollte durch Tanz, Spiel und Musik von jungen Menschen zum Ausdruck kommen. Das war ungewohnt und befremdlich. Da waren es Susanne und ihre Seminarklasse, welche in den Entscheidungswochen die Bedenken der Verantwortlichen in vielen Kirchgemeinden ausräumten. Denn sie führten vor, wie Tanz, Spiel, Musik und Wort zu einem Gottesdienst führten, der berührte und zur Freude führte.
Für Werner war sie die ideale Partnerin und Beraterin. Er freute sich immer, heimzukommen, Susanne zu erzählen und ihre Meinung zu hören.
Berufsarbeit am Seminar
Bald gehörte es zum Leben im Seminar, dass Susanne ein kteineres oder grösseres Pensum als Deutschlehrerin und Leiterin von Theaterwochen hatte. Jetzt fühlte sie sich erst richtig zugehörig und schätzte den fachlichen und persönlichen Kontakt mit Seminaristinnen, Seminaristen und Kollegen. Für die eigenen Kinder war es attraktiv, die Mutter als Lehrerin zu sehen. Wenn sie eine Theaterwoche leitete, rannten sie nach Hause, um im Musik- oder Speisesaal bei den Proben zuzuhören. Rasch konnten sie Passagen des «Sommernachtstraums» auswendig oder spielten Szenen von Dürrenmatts «Portrait eines Planeten» nach. Damit kamen sie auch den Seminaristen und Seminaristinnen nahe.
Dreiundzwanzig Jahre war das Seminar Lebens- und Arbeitsraum von Susanne und der ganzen Familie Krämer. Als sie 1984 wegen Werners Berufung an die Uni aus dem Seminar auszogen, sagten Susanne und die Kinder: Von mir aus hätten wir schon bleiben können.
Susannes neue Engagements
Rasch und kontinuierlich hatte sich ihr Tätig keitsfeld schon früh über das Seminar hinaus ausgeweitet. Der «Kirchenbote des Kantons Zürich» gab ¡hr immer regelmässiger Aufträge für Publikationen. Es fiel ihr leicht, flüssig und gut lesbar zu schreiben. Ab 1983 war sie stellvertretende und wiederholt interimistisehe Chefredaktorin des Kirchenboten.
Im Kontakt mit Silja Walter im Kloster Fahr wurden für sie religiöse Erfahrung. Spiritualität und Meditation wichtig. Dies führte zu einer jahrzehntelangen Freundschaft, in der Susanne wichtige Gesprächspartnerin beim Entstehen von Siljas Büchern war und auch ein ausgedehnter Briefwechsel entstand. Gleichzeitig engagierte sich Susanne beim Aufbau des Hauses der Stille und Besinnung in Kappel am Albis. Die Begegnung mit verschiedenen Wegen der Meditation führte dazu, dass sie über Jahre regelmassig ¡m Stile des Zen meditierte. Dadurch erschlossen sich ihr neue Dimensionen der Erfahrung und des Ausdrucks. Dies spiegelt sich in ihren Bildmeditationen, die zu einem Markenzeichen des Kirchenboten wurden.
Von den Achtzigerjahren an wurde die Oekumenische Frauenbewegung über zwanzig Jahre lang so etwas wie Heimatort für Susanne. Sie gehörte zu den Gründerinnen und zu den Gestalterinnen der Frauengottesdienste, welche einmal monatlich am Sonntagabend ¡m Chor des Fraumünsters vor den Chagallfenstern gefeiert wurden. Dies führte zur Lektüre und Diskussion der feministischen Theologie und zur Entwicklung einer eigenen Liturgie der Frauengottesdienste, welche alle Teilnehmenden aktiv einbezog. Alles weitete sich aus: Es entstanden Frauenkirchentage, Frauensynoden, Frauenkirchennächte. Viele der Ideen und Gestaltungsvorschläge kamen von Susanne. Wenn die planenden Gruppen etwa trotz allem Suchen keine passenden Lieder fanden, konnte Susanne sagen: Dann schreib ich eines. Und sie schuf einen Text und komponierte eine Melodie, die Anklang fanden. So entstanden neue Lieder, welche Susanne schliesslich erweitert mit einer Kollegin als Oekumenisches Frauenliederbuch herausgab.
Susanne hatte keine Hemmungen, sich offen als Feministin zu bekennen. Ihr Engagement für die Gleichberechtigung der Frau und die Frage ihrer Stellung in der Oekonomie und Arbeitswelt wurde immer konkreter. Sie startete eine grosse Erhebung zur bezahlten und unbezahlten Arbeit bei Frauen und Männern und erreichte damit, dass bei der eidgenössischen Volkszählung 2000 die Stünden und damit der Wert der unbezahlten Arbeit, die Frauen leisten, offiziell erhoben wurden.
Als Susanne bei der Wahl als Chefredaktorin des Kirchenboten Übergängen wurde («zu feministisch, zu politisch»), wurde sie als Studienleiterin für «persönliche Lebensgestaltung» ans Evangelische Tagungs- und Studienzentrum Boldern gewählt. Von besonderer Bedeutung wurden ihre Trauerseminare, die sogenannte Boldern-Buchmesse mit Autorinnen von Neuerscheinungen sowie das Labyrinthprojekt. Über Jahre hinweg verfasste sie Bolderntexte, kurze Bibelauslegungen für jeden Tag. Ihre Art, die biblischen Worte ¡n eigenen Erfahrungen zu spiegeln, brachten ihr regelmässig dankbare Echos ein. Susannes Notiz über diesen Lebensabschnitt: «Die Zeit auf Boldern waren glückliche Jahre! Ich hatte es da noch einmal direkt und live mit Menschen zu tun.»
Das Engagement für die Labyrinthbewegung wurde zu einem eigenen Schwerpunkt ihrer Arbeit: Sie initiierte das Labyrinth auf dem Gelände von Boldern und leitete seine Gestaltung. Sie malte ein Labyrinth auf dem Dach des Hauses einer Freundin auf Ibiza und stampfte jeweils auf Neujahr ein Labyrinth ¡n den frischen Schnee neben ihrem Ferienhaus in Campello. Und natürlich hat sie zum Thema geforscht und publiziert. Etwa: «Labyrinthfrauen gehen eigene Wege. Zehn Jahre Schweizer Labyrinthbewegung». Ein letzter fruchtbarer Zweig von Susannes Ideen und Projekten waren die «Frauenreisen» (auch Männer waren willkommen) unter dem Motto «Die spirituelle Dimension der Kunst». Die ersten führten ins Rheinland zum Wirkungsort von Hildegard von Bingen auf dem Disibodenberg. Weitere ¡n die Toscana zu Niki de Saint Phalles Tarotgarten und Daniel Spoerris Skulpturenpark (u.a. mit Werken von Eva Aeppli, Jean Tinguely, Meret Oppenheim) oder an die Cote d'Azur zu den grossen biblischen Gemälden von Marc Chagall, zur Chapelle du Rosaire von Henri Matisse in Vence. Dazu kamen Reisen zu Labyrinthen und besonders gestalteten Landschaften ¡n Deutschland. Im Ganzen waren es 21 Reisen, die Susanne zusammen mit ihrer Freundin Simone Staehelin leitete. Die beglückten und dankbaren Briefe der Teilnehmerinnen an diesen Reisen füllen in Susannes Nachlass ganze Schachteln.
Angesichts der Fülle, der Vielfalt und der Verschiedenartigkeit dieser Werke wurde Susanne etwa gefragt: «Wie bist du auf all dies gekommen? Woher hast du die Ideen gewonnen?» Ihre Antwort: «Ich habe eigentlich nicht viel gesucht, spekuliert und geplant. Ich habe einfach wahrgenommen, was ¡st. Dann kamen Einfälle und ich tat, was sich aufdrängte.» Und sie freute sich über das, was gelang.
Nicht verschwiegen werden soll, dass Susanne in ihrer Art verschiedentlich andere vor den Kopf stiess, Mitplanende, Mitarbeiterinnen, Kolleginnen. Überfuhr sie diese mit ihrer Raschheit? Erdrückte sie diese durch-das Überzeugtsein von ihren eigenen Einfällen? Verletzte sie diese durch ihre direkte Art zu kritisieren? Ich kann es nicht sagen, weiss auch nicht, wie klar dies Susanne war. Aber es gab Verletzungen und ich denke, Susanne würde um Entschuldigung bitten.
Die letzten Jahre
Ein Jahr vor Susannes 80. Geburtstag kündigte sich die Demenzerkrankung an: Unerwartetes Vergessen, Schwierigkeit mit der zeitlichen Orientierung. Susanne kannte dies von der Demenzerkrankung ihrer Mutter und ihres Bruders. So war die Diagnose der Memoryklinik nicht wirklich eine Überraschung. Klar war uns: Wir leben unser Leben weiter, möglichst so, wie wir es bisher gelebt haben. Wir bleiben in unserer Wohnung, wo alles unser gemeinsames Leben atmet, solange es geht. Schrittweise suchten wir Unterstützung, die nötig wurde: Zeitweise für den Haushalt, dann für Grundpflege, die immer anspruchsvoller wurde. Wir sind dankbar für alle Hilfe.
So lebte Susanne die letzten sechs Jahre i m vertraute n Rahmen, nahm manchmal schmerzlich wahr, was ihr verloren ging, oft war sie sich des Verschwindens nicht bewusst. Wir gingen weiter ins Konzert, ins Schauspielhaus, in Ausstellungen, gingen gerne zu Besuch, hatten gerne Gäste. Ein Segen, dass Susanne immer die ganze Nacht durchschlief, gerne Musik hörte, vorgelesenen Geschichten emotional stark und präzis folgte und gerne Eindrücke austauschte.
Dann im Sommer 2021 in rascher Folge gesundheitliche Einbräche. Sie machten klar: Jetzt ist das Leben zu zweit ¡n unserer Wohnung nicht mehr möglich. Und in den letzten Tagen vor dem Eintritt ins Spital und ins Pflegezentrum die Erkenntnis: Sterben und Tod sind viel näher, als wir dies noch vor kurzem dachten. Der Eintritt ins Pflegezentrum Witikon führte zu fünf Wochen guter Obhut für Susanne und zu einer sensiblen individuellen Pflege. Dies war für Werner, Mathis, Thomas und Nina eine wertvolle Zeitspanne der Ruhe und Geborgenheit, die Raum gab, Abschied zu nehmen. Am 16. November tat Susanneohne Kampf ¡n Ruhe ihren letzten Atemzug. Werner sass an ihrem Bett.
Zum Schluss Susannes eigene Worte aus einer ihrer Bildmeditationen zum Foto von Verena Eggmann: Ein runder Tisch ¡m Speisesaal des Seminars Unterstrass. Darauf vier noch nicht abgeräumte Teller und Gläser, Messer und Gabeln. Einige Nussschalen, ein Rest von Brot und eine Traube.
Und Susannes Worte:
«Einmal werden wir aufstehen vom Tisch
und nicht wiederkehren.
Einmal werden wir fortgehen
und nicht wissen,
dass es das letzte Mal war.
Alles wird stehen bleiben
und niemand mehr ordnen
Besteck und Geschirr
und die Schalen der Nüsse.
Hart wird werden das duftende Brot,
und vertrocknen werden
die Beeren der Trauben.
Und niemand wird fragen,
wohin wir gegangen,
noch wer wir gewesen.
Aber andere
werden sich niedersetzen
zu Brot und Nüssen,
zu Trauben und Mais –
und das Leben feiern,
das aufersteht,
wenn sie feiern das Mahl.»