Matthias «This» Widmer
Für Matthias war «das Semi» ein silberner Winkel
Unser Bruder Matthias hätte gern im «Silbernen Winkel» gearbeitet. Im Café-Restaurant in der Altstadt von Winterthur, an der Ecke Marktgasse Unterer Graben, wurde die bürgerliche Küche gepflegt. Beliebt waren auch die Torten, Cremeschnitten und Coups der hauseigenen Patisserie, so auch bei This, wie wir unseren Bruder in der Familie nannten. Eine Stelle im Service oder in der Küche des weit über die Stadt hinaus bekannten Lokals hätte er sich gut vorstellen können. Doch es ist nie dazu gekommen. Kondukteur bei der SBB wäre er auch gerne geworden und schon früh hatte er davon geträumt, Briefträger zu werden. In seiner frühen Jugend trug er für unseren Vater, der in Stammheim Landarzt war, die Rechnungen im Dorf aus und verdiente dabei das Porto. Da und dort bekam er jeweils eine Süssigkeit, wenn er das Couvert persönlich abgab. Die Anschriften am Briefkasten konnte er nicht lesen. Matthias war mit einer starken Sehbehinderung und mit einer cerebralen Lähmung zur Welt gekommen.
Er fuhr mit dem Zug, anfangs mit Begleitung und später selbstständig, von Stammheim nach Winterthur in die «Maurerschule», eine vom Ehepaar Regula und Hansruedi Maurer gegründete heilpädagogische Schule. Mit zwanzig Jahren zog er in ein Wohnheim und trat in die geschützte Werkstatt Winterthur-Töss ein. Verschiedene Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten wurden dort ausprobiert. Einen Beruf zu erlernen und eine für ihn sinnvolle Tätigkeit zu finden war kein Thema. So verblieb nur die Arbeit in der Werkstatt: Nägel durch Kartonrondelle schlagen für die grossen Kisten der Firmen Rieter und Sulzer oder Kopfhörer für die Swissair desinfizieren.
Kurz nach seinem 40. Geburtstag hatte This genug: Er wollte nicht mehr in einem Heim wohnen und nicht mehr in einer geschützten Werkstatt arbeiten. Seine beiden Spezialämtlis hatte er verloren. Er konnte im Büro keine Briefmarken mehr kleben, weil eine Frankiermaschine angeschafft worden war. Und auch das Postfach auf der Hauptpost konnte er nicht mehr leeren, weil dieser Posten von einem anderen Heimbewohner übernommen wurde. Als interner Postier wurde er auch nicht mehr gebraucht. Darauf bewarb er sich telefonisch beim «Silbernen Winkel», doch die guten Zeiten des altehrwürdigen Cafés waren längst passe, die endgültige Schliessung war nur noch eine Frage von Monaten. Auch bei der SBB und der Post kam es nie zu einem Vorstellungsgespräch. Enttäuscht versuchte Matthias das Korsett seiner Mehrfachbehinderung zu sprengen, kam kaum mehr zum Schlafen und landete am Schluss auf der Psychiatrie. Wo gab es eine für Matthias sinnvolle Arbeit? Wo konnte er seine Begabungen einsetzen? Er hatte ein gutes Ohr für Zwischentöne und konnte die feinsten Schattierungen im Tonfall seines Gegenübers heraushören. Es fiel im leicht, die richtigen Worte zu finden, und er spürte, wie er jemandem eine Freude machen konnte. Im Service wäre er am richtigen Ort gewesen, doch wo gab es einen solchen Arbeitsort für ihn? In einem Altersheim vielleicht? Da hätte er Botengänge für die Bewohner:innen machen und in der Cafeteria die eine und andere Aufgabe übernehmen können. Doch es gab kein Altersheim in Winterthur, das einen solchen Arbeitsplatz für This einrichten wollte.
An einem Nachmittag gegen Ende des alten Jahrtausends, am Rande einer Sitzung in Unterstrass, schilderten wir Jürg Schach das Elend mit der Jobsuche für unseren Bruder. Kurzentschlossen stand er auf; wir gingen hinunter in die Küche, wo der Küchenchef Max Oswald mit den letzten Aufräumarbeiten des Tages beschäftigt war. Für Matthias gäbe es in seiner Küche bestimmt Arbeit, meinte er, mindestens für einen Tag pro Woche. An der Seite von Fetah Krasnici könne er beim Vorbereiten der Mittagessen helfen; er könne den Kaffee ins Lehrerzimmer bringen und am Buffet die Teller ausgeben; nach dem Mittagessen alle Teller abwischen. Arbeit gab es genug. Bald stand Matthias vor der wöchentlichen Versammlung aller Studentinnen und Lehrerinnen und erklärte, dass er seine Aufgabe nur erledigen könne, wenn alle ihr Geschirr abräumen würden, was den nötigen Eindruck machte.
Aus dem einen Tag im Unterstrass wurde ein zweiter. Die drei anderen Tage der Woche arbeitete Matthias in der geschützten Werkstatt des Wohnheims in Bubikon, was für ihn eine gute Mischung war. Nach der Pensionierung von Max Oswald arbeitete er weiter unter dessen Nachfolger Peter Ryser. Ein Fixpunkt war für Matthias auch das Sekretariat, wo ihn Dagmar Schlecht und Monica Lutz immer wieder mit einem Botengang beauftragten. Er liebte den Austausch und erfuhr, dass seine Dienstleistungen geschätzt wurden. Seine Integration in die sogenannt normale Welt machte buchstäblich Schule. 1998 bis 2007 arbeitete Matthias im Unterstrass. Dann wurde ihm das Pendeln zwischen Bubikon und Zürich zu viel. Für Matthias war seine Aufgabe im Unterstrass ein silberner Winkel. Es war der Job seines Lebens. Für uns als Familie war die Integration von Matthias in den Arbeitsalltag des Seminars Unterstrass ein Anlass, den This-Priis ins Leben zu initiieren. Seit 2006 wird dieser Preis jedes Jahr Unternehmen im Wirtschaftsraum Zürich verliehen, die sich vorbildlich für die Integration Handikapierter in ihrem Unternehmen einsetzen.