Die zweite Promotion musste die Abschlussprüfung unter widrigen Umständen an einer staatlichen Schule ablegen.

Im Kreuzfeuer politischer Kräfte

Zürich, 30.04.2019

Das heutige unterstrass.edu wurde in einem schwindelerregenden Tempo im Mai vor 150 Jahren gegründet und in den folgenden Jahren etabliert. Das neue Seminar musste sich im Spannungsfeld der staatlichen Schulen sowie der nach links umschlagenden Regierung und der christlich-konservativen Gründerväter behaupten.

Wie stampft man eigentlich eine nichtstaatliche Schule aus dem Boden? Vor 150 Jahren brauchte es von der Vision zur Umsetzung nur einige Monate. Als dem Zürcher Förderverein des Seminars in Schiers wegen dem dort herrschenden Schlendrian der Kragen platzte und er beschloss, ein eigenes Seminar zu gründen, musste innert kürzester Zeit nicht nur die Finanzierung gesichert sein, das Schulgebäude und das ganze Personal gefunden werden, sondern auch ein Lehrplan und ein Aufnahmeverfahren entwickelt werden.

Ein Seminar ohne Schlendrian

Klar war Eines: Am Seminar Unterstrass soll anders als in Schiers grosse Disziplin herrschen. Der Lehrplan musste schon damals vom Erziehungsrat bewilligt werden, was mit einem aus Zeitmangel von anderen evangelischen Schulen abgeschriebenen Lehrplan rasch gelang. Die Gründer gingen pragmatisch vor.

Die Einbettung der Schule im Umfeld von staatlichen und anderen evangelischen Schulen verlief hingegen nicht ganz frei von Stolpersteinen.

Im ersten Schuljahr ging es noch beschaulich zu und her: Der erste Direktor Heinrich Bachofner nahm mit sechs Schülern den Schulbetrieb auf. Er wohnte mit seiner Familie am Kreuzplatz, wohin er auch die Schüler holte und eine Lern- und Lebensgemeinschaft gründete. Die erste bescheidene Eröffnungsfeier im Mai 1869 wurde von der Öffentlichkeit noch nicht registriert. «Kein Mensch nahm Notiz von uns; selbst unsre nächsten Nachbarn wussten nicht, was wir wollten. Das erste Jahr war das schönste.» Mit diesen Worten beschrieb Bachofner das erste Schuljahr. Es sollten noch einige Herausforderungen auf ihn zukommen.

Die «unvergnügten» Frömmler

Im Frühling 1870 bezog die Schule den früheren Gasthof zum «Weissen Kreuz» an der Stampfenbachstrasse in Unterstrass. Zum zweitem Mal gab es eine Eröffnungsfeier, an der plötzlich alles ein bisschen anders war. Die Schule war rasant gewachsen und wurde öffentlich wahrgenommen. Auch die politische Situation hatte sich verändert. Nach den Parlamentswahlen im Mai 1869 erhielten die Demokraten eine Mehrheit in der Regierung. Die neu herrschende Politik nahm das von politisch eher konservativen evangelischen Kräften gegründete Seminar Unterstrass kritisch wahr. Wie spöttisch die Demokraten über das Seminar Unterstrass dachten, zeigte sich in Zeitungsartikeln wie dem zur zweiten Eröffnungsfeier des Seminars im «Weissen Kreuz». An der Feier waren mehr als 1000 Personen anwesend, wurde in der «Zürcherischen Freitagszeitung», dem Sprachrohr der Linksliberalen, zunächst neutral berichtet. Das Seminar «zählt bereits 30 Zöglinge, die aber bei der Feier gar nicht so vergnügt dreingesehen haben». Die Schüler wurden mit Bemerkungen wie ihnen hafte ein «eigenthümlicher pietistischer Typus» an karikiert. Der Artikel endete mit der spitzen Bemerkung: «Hohe fromme Herrschaften nahmen an der Feier Theil und erfrischten sich nachher beim Forstmeister, die Zöglinge wohl eher beim Frostmeister.»

Der schnippische linksliberale Erziehungsratspräsident

Die herrschenden Linksliberalen spotteten nicht nur, sondern machten in der Person des Erziehungsratspräsidenten den Zöglingen des Seminars Unterstrass das Leben zuweilen schwer: So durften dort keine eigenen Abschlussprüfungen durchgeführt werden, sondern die Kandidaten mussten am staatlichen Seminar in Küsnacht gemäss Bachofner «wie arme Sünder» antreten. An den Abschlussprüfungen 1874 bestanden fünf von 12 Seminaristen nicht. Der Schulinspektor machte die schwierigen Umstände und nicht die Ausbildung dafür verantwortlich.

Direktor Bachofner musste ebenfalls mit einem schnippischen Erziehungsratspräsidenten und mit Geldsorgen klarkommen. In den 1870er Jahren antwortete dieser auf die Anfrage, ob das Seminar Unterstrass staatliche Stipendien beziehen darf: «Wir kennen kein Seminar in Unterstrass!».

Zu sportlich und musisch für die Christlich-Konservativen

Für die Demokraten waren die Seminaristen in Unterstrass zu wenig vergnügte Jugendliche, für ganz besonders fromme Kreise frönten sie zu stark dem Vergnügen. Diese kritisierten, dass musische Fächer und Sport zu viel Gewicht hätten: «Unser Herr und Meister habe mit seinem Jüngern weder so viel Musik gemacht noch geturnt», fasst Bachofner die Vorwürfe zusammen.

Bachofner hatte die Aufgabe, eine Balance zwischen diesen Extremen zu finden. Wie das in Einklang mit dem Lehrplan und der Strukturierung des Lebens am Seminar Unterstrass gelang, zeigt demnächst «Highlight 44» und die Ausstellung «EinBlicke», die zurzeit am Gymnasium Unterstrass besichtigt werden kann. Soviel steht aus heutiger Sicht und der Beurteilung von Direktor Bachofner fest: «Der Müssiggang hat in unserem Haus wahrlich keinen Raum.»